DER TEMPEL DER FLAMME
EIN MÄRCHEN FÜR DIE SCHLANGENKRAFT
ODER
EINE REISE INS REICH DER SCHATTEN
Es war einmal ein Mädchen,
das ihre Wildheit verlernte.
Nicht auf einen Schlag,
sondern Stück für Stück.
Sie lernte, dass Wut gefährlich ist.
Dass Lust beschämt.
Dass Weinen schwach macht.
Dass Laut sein unbequem ist.
Dass Tiefe unpassend ist.
Dass Hunger - nicht nach Brot, sondern nach Leben -
etwas ist, das man besser nicht zeigt.
Und so wurde das Mädchen
zur Frau,
Angepasst.
Glatt.
Lächelnd.
Vielleicht Erfolgreich.
Und dennoch:
leer.
Eines Tages,
als sie durch ihr Leben ging,
das sie selbst nicht kreiert hatte,
wie durch einen Raum,
den sie selbst niemals so eingerichtet hätte,
kam sie an einen Ort,
den sie nicht kannte -
und doch erinnerte.
Ein Tor, wie ein Portal.
Hinab ins Dunkel,
Warm.
Etwas feucht.
Eine Höhle. Ein Gewölbe. Ein Schoß.
Wie im Bauch der Erde.
Nicht bedrohlich, aber tief.
Gehalten.
Plötzlich hörte sie ein Zischen.
Ein Schaben.
Ein Gleiten.
Die Schlange.
Sie war nicht draußen.
Sie war in ihr.
In ihrem Becken.
In ihrem Schoß.
Langsam hob sie sich.
Nicht schnell, nicht grell.
Sondern lauernd, lauschend,
liebend.
„Ich bin deine Kraft“,
zischte sie.
„Ich war nie weg.
Ich war nur gefesselt.“
„Von wem?“
flüsterte die Frau.
„Von dir“, sagte die Schlange.
„Du hast mich weggesperrt.
Mit all den Tränen,
mit all der Lust,
mit all der Scham,
mit all der Wut,
mit all der Wahrheit.“
Die Frau wollte weglaufen.
Aber ihr Körper blieb.
Er zitterte.
Nicht vor Angst.
Sondern vor Erinnerung.
Die Schlange wand sich durch sie.
Sie war nicht grob.
Aber unerbittlich.
Sie kroch durch ihre Zellen,
durch ihr Blut,
durch das gesamte fasziale Netzwerk
ihres Bindegewebes.
Der Ort, an dem alles das in Verdrängung
und Vergessenheit geriet - wie in einem Verließ,
darauf wartete befreit zu werden.
„Ich bin die Flamme,
die du ausgelöscht hast,
weil sie zu hell war.“
„Ich bin die Lust,
die du ausgemacht hast, weil sie zu viel war.“
„Ich bin die Stimme,
die du zugeschnürt hast, aus Vernunft.“
„Ich bin die Göttin,
die in dir geboren werden will –
nicht als Rolle,
sondern als Wahrheit.“
Und dann geschah es:
Die Frau ließ zu.
Sie ließ die Trauer kommen.
Die Wut.
Die Ohnmacht.
Die Sehnsucht.
Die Scham.
Die Angst.
Die Lust.
Und jede dieser Kräfte
verwandelte sich –
nicht in Licht,
sondern in Wärme.
In Glut.
In innere Alchemie.
Sie schrie.
Sie weinte.
Sie lachte.
Sie bebte.
Sie betete durch ihren Körper.
Sie verkörperte alles das was ganz werden wollte.
Der Tempel öffnete sich.
Nicht in einem heiligen Gebäude.
Sondern in ihrem Becken.
In ihrem Schoß.
In dem Ort,
der zu lange
stumm gewesen war.
Unbewohnt.
Kalt.
Dort saß sie.
Nackt.
Nicht körperlich - seelisch.
Pur. Echt. Frei.
Sie spürte,
das Leben der Schlange
erwachte, tanzte um zu pulsieren...
Wie fühlte sie sich aufrichtete
und aus dem Schoß
eine Flamme stieg.
Nicht eine, die verbrannte -
eine, die verwandelte.
Aus dieser Flamme
stieg ihr Name:
Nicht der, den sie trug.
Sondern der, den sie vergessen hatte.
Tochter der Göttin.
Hüterin der Lust.
Trägerin der Schöpfung.
Wandlerin der Welten.
Priesterin des Lebens.
Frau.
Und wer ihr seither begegnete,
spürte:
Da ist eine,
die nicht spricht,
sondern brennt -
nicht um zu zerstören,
sondern um zu erinnern.
Dass alles heilig ist.
Auch das,
was wir Schatten nennen.
Aho!
In Liebe, Nina