DER INNERE GARTEN

UNTER DER HAUT

 Ein Märchen der Pflanzenwesen und der großen Mutter Erde


Es war einmal eine Frau,
 die hatte so vieles getragen,
 dass sie irgendwann vergaß,
 wie es sich anfühlt, empfangen zu werden.
Sie konnte halten, helfen, geben, trösten, führen -
aber wenn sie still wurde,
hörte sie nur ein leises Rufen in sich:
„Komm heim.“
Eines Nachts, als der Mond wie eine goldene Sichel
über ihrem Herzen stand,
legte sie sich auf die Erde.
Nicht auf Wiesen, nicht auf Stein -
sie legte sich auf ihren inneren Boden.
Und dieser begann zu sprechen.
Nicht in Worten.
In Düften.
In Farben.
In Wurzelliedern.
Vor ihr öffnete sich ein Tor aus Moos,
und sie trat ein 
in einen Garten,
der wie sie selbst war:
wild und geordnet zugleich,
duftend nach Leben und alten Tränen,
voller Kräuter, die sie mit Namen ansprachen.
„Willkommen zurück,“
flüsterte der Frauenmantel
und legte seinen grünen Umhang um ihre Schultern.
„Hier darfst du dich fallen lassen. Ich halte dich.“
„Ich bin die Schafgarbe,“
sprach es in feinem, weißen Licht.
„Ich grenze dich ab – nicht, um dich zu trennen,
sondern damit du dich sicher öffnen kannst.“
Sie ging weiter.
Und mit jedem Schritt barfuß über die dunkle, warme Erde
ließ sie Gedanken los,
Konzepte, Geschichten, alte Rollen.
Sie wurde weich.
Sie wurde leer.
Sie wurde empfangend.
Da hob sich ein silbriger Dunst vom Boden,
und die Melisse lächelte:
„Ich streichle dein Nervenkleid.
Ich beruhige, was zu viel gesehen hat.“
„Ich bin der Beifuß,“
rief es aus dem Halbschatten eines Steinkreises.
„Ich bin die Hüterin des Tores zwischen den Welten.
Ich entzünde das Feuer unter deiner Urkraft.“
Die Frau kniete nieder
und grub mit den Händen in die Erde.
Dort war Mist.
Nicht Abfall, sondern gelebtes Leben:
Schmerz, der nicht gefühlt wurde.
Wut, die verbannt wurde.
Sehnsucht, die leise blieb.
„Hier,“
sprach die große Mutter Erde selbst,
ihre Stimme vibrierte in den Knochen.
„Hier gib es mir.
Ich bin Alchemistin.
Ich verwandle Dunkel in Nahrung.
Du musst nichts heilen.
Nur übergeben.“
Und so tat sie es.
Nicht dramatisch.
Nicht laut.
Nur ehrlich.
Sie legte ihren alten Schmerz
in die Hände der Erde –
und spürte, wie darunter etwas aufstieg:
Ein goldener Strom.
Kein Lichtstrahl.
Ein lebender Fluss.
Wellen von Prana, von Atem, von Urwissen.
Er durchströmte ihren Schoß,
ihre Brust, ihre Kehle –
und überall, wo er berührte,
blühten Pflanzen.
Sie war nicht getrennt vom Garten.
Sie war der Garten.
In ihrer Gebärmutter wuchs ein Lotus.
Auf ihrer Zunge lag Thymian.
Ihr Atem roch nach Myrrhe.
Und ihr Rücken war Moos und Licht zugleich.
Die Rose öffnete sich zuletzt.
Still.
Ohne Erklärung.
Und sagte nur:
„Du bist nicht hier, um perfekt zu werden.
Du bist hier, um zu blühen.“
Und so saß die Frau in ihrem Garten –
nicht als Gärtnerin, nicht als Suchende,
sondern als Teil des großen Kreislaufs. 
Und sie wusste:
Wenn sie diesen Ort vergisst,
wird sie nur ihre Hände in die Erde legen müssen,
und die Pflanzen
werden wieder singen.