DAS HERZ DER MANDORLA

EIN MÄRCHEN FÜR DIE RÜCKKEHR DER HEILERIN


Es war einmal eine Zeit, in der die Tore zwischen den Welten weit offenstanden und die Menschen mit der Erde sprachen wie mit einer Schwester.
In dieser Zeit lebte ein Mädchen namens Elenya, deren Herz wie eine Kelchblüte war -
offen, lauschend, ahnend.
Doch die Welt hatte das Hören verlernt. Die Lieder der Erde wurden leiser,
der Schoß der Frauen versiegelt, die Schlange der Urkraft aus dem Bewusstsein verbannt.
Elenya wuchs mit einem Gefühl von Sehnsucht auf - einer Sehnsucht, die nicht aus dem Kopf, sondern aus ihrem Schoßraum stieg wie warmer Dampf aus einer heiligen Quelle.
 In ihren Träumen erschien ihr immer wieder eine Lichtgestalt,
von einem Mandorla-Leuchten umgeben,
deren Stimme aus der Tiefe klang:
„Geh zum Baum, der seine Wurzeln in den Sternen hat.
 Dort wird das Tor sich öffnen.
Der Weg der Heilerin beginnt in deinem Schoß.
Im Schoß der Erde und endet im Schoß des Himmels.
Du musst die verlorene Schlange finden, um das Tor zu öffnen.

Und so begann Elenya ihre Reise. Mit nichts als einem Tropfen Mondlicht in ihrer Tasche 
und einem Bündel getrockneter Heilpflanzen - 
Frauenmantel, Schafgarbe, Angelika, Beifuß und Rose - 
machte sie sich auf den Weg, durch dunkle Wälder 
und blühende Felder. Hinein in Höhlen aus vergessener Zeit.

Die Begegnung mit der Alten

Tief im Nebelwald, wo die Farne flüstern und der Boden weich ist wie ein mütterlicher Schoß, begegnete sie der Alten in einer Höhle aus Stein.
Sie war gekrümmt wie der Sichelmond und trug ein Kleid aus
Moos und Rinde. Ihre Augen - wie zwei tiefe Quellen -
sahen durch Elenya hindurch.
„Du suchst das Tor?“, fragte sie.
Elenya nickte.
Die Alte legte ihr eine Hand auf ihren Schoß - nicht körperlich, sondern seelisch.
„Erinnere Dich. Die Kraft ist nicht verloren, sie schläft nur.“
Sie führte Elenya zu einem Baum - dem Weltenbaum, dessen Wurzeln im dunklen Wasser lagen und dessen Äste das Feuer der Sterne trugen. In seinem Stamm war eine Mandorla eingeritzt, in ihr eine eingerollte Schlange aus Gold.
„Hier beginnt das Ritual“, sprach die Alte.

Das Ritual der Rückkehr

Sie wies das Mädchen in die Mitte eines Kreises aus den 4 Elementen:
Der Erde legte sie Ton auf den Schoß - schwer, nährend, formbar.
Das Feuer tanzte um sie in kleinen Flammen aus getrocknetem Beifuß.
Der Wind fuhr durch ihr Haar und sang alte Lieder in ihren Herzraum.
Der Fluss des Wassers am Wasserfalls der Quelle hinter dem Baum floss vom Himmel herab - wie die Ahnenkraft selbst.
Dann trat die Alte zurück und sprach mit dem Wind in einer alten Sprache,
der Sprache der Ahninnen

- den leuchtenden Seelenfrauen, den Hüterinnen des Lebensflusses.
Der Wind trug die Worte zu den Blättern, die Blätter flüsterten sie in die Erde, und aus der Erde erhob sich ein Glitzern.
Es war Prana - der verlorene Fluss des Lebens, der wie ein leuchtender Strom durch Elenyas Schoßraum floss.
Er verband sich mit ihrem Herz und spannte einen goldenen Bogen bis zum Himmel.

Die Rückkehr der Schlange

Da, aus der Wurzel des Baumes, kam die Schlange. Nicht zischend, nicht verführend - sondern weich, leuchtend, würdevoll. Sie wand sich um Elenyas Körper,
legte sich schließlich wie ein Armband um ihren Unterleib,
erhob ihren Kopf und sprach mit einer Stimme,
die in Mark und Seele vibrierte:
„Ich bin die Hüterin der Wandlung.
Ich bin nicht die Versuchung.
Ich bin das Erinnern.
Wer mich verdrängt, verdrängt das Leben.
Wer mich willkommen heißt, gebiert das Neue.
Wer mich hält, hält die Kraft Leben zu weben“

Elenya verneigte sich in tiefer Hingabe -
nicht als Unterwerfung und Angst sondern als Anerkennung und Respekt.
der urweiblichen Kraft, die durch sie strömte.
Elenya ließ die Schlange in ihrem Schoß Platz nehmen.
Nicht physisch, sondern als Strömung des goldenen Fluss`
durch das energetische Tor,
das sich wie ein Portal tief in ihr öffnete.
In diesem Moment begann ihr Schoßraum zu leuchten,
wie eine Mandorla aus Licht.
Von dort öffnete sich eine Kraft in ihr Herz,
verband sich mit dem Rhythmus der Erde
und dem Licht der Sterne des Himmels.
Sie sah Mandalas entstehen - aus Blut, Licht, Gesang, Atem.
Sie sah die Gesichter der Frauen, die vor ihr kamen.
Und die Stimmen derer,
die noch kommen würden.
Von diesem Tag an konnte Elenya heilen.
Nicht durch Zauber, sondern durch das, was durch sie floss.
Eine lebendige Brücke zwischen Himmel und Erde,
gehalten durch die Verbundenheit des kosmischen Schoß`.

Sie sah, was jede Heilerin wissen muss:
Dass Liebe kein Gefühl ist, sondern eine Urkraft.
 Dass Hingabe kein Opfer ist, sondern ein Kanal.
 Dass der Schoß nicht nur Leben gebiert, sondern Welten.
Dass der Tod nicht das Ende ist sondern ein neuer Beginn.

Und so kehrte Elenya zurück

Nicht mehr als Mädchen, sondern als Wächterin des Tors,
Trägerin der Mandorla,
Mittlerin zwischen den Welten.
Heilerin.
Unterhalb ihres Herzens - die Schlange.
Unter ihrem Nabel - der stille Kreis aus Licht.
In ihrer Stimme - das Lied der Elemente.
In ihrem Schoß - der Fluss des Lebens.
In ihrem Rücken - die Kraft der Ahnen.
In Ihrem Herz die Göttin.
In Ihrem Kopf die Vision:

Von Frauen in ihrer natürlichen Kraft.
Wenn sie lachten, wuchs der Weltenbaum.
Wenn sie tanzten, strahlten die Sterne.
In Ekstase erwachte die Schlange.
Wenn sie dem Schoßraum lauschten, antwortete das Herz der Erde.
Und so wurde sie zyklisch in Kreisen,
von Jahr zu Jahr
heiler und heiler.

Aho!